Lieber Kollege Jäckel,
Gibt es bei individuell aussichtslosen Fällen aus Ihrer Erfahrung nicht oftmals einen Grenzbereich, wo die Beatmung und Medikation nicht mehr zum Wohle des Individuums sondern nur noch im Hinblick auf die Explantation und die Weiterverwendung des Organs aufrecht erhalten wird?
Diese Frage kann man nicht mit "ja" oder "nein" beantworten, denn gerade in der Intensivmedizin sind die Dinge oft sehr dynamisch.
Zuerst einmal muss man sich darüber im Klaren sein, über welche Patienten wir hier reden. Es geht um Menschen mit einem schweren Hirnschaden. Dieser Schaden liegt meist isoliert vor, er bestimmt das Krankheitsbild.
Typische Beispiele sind:
- - Verkehrsunfälle mit Schädel-Hirn-Verletzung
- Hirnblutungen (z.B. geplatze Aneurysmen=gleich Gewebeschwäche einer Arterie)
- schwere Schlaganfälle mit nachfolgender Hirnschwellung
Der Hirnschaden führt in der Regel zur Krankenhausaufnahme, das Ausmaß der Hirnschädigung ist groß und von Beginn an sind umfassende intensivmedizinische Maßnahmen erforderlich.
Viele dieser Menschen sind jung und haben (noch) gar keine Überlegungen/Aussagen zu
lebensverlängernden Maßnahmen getroffen.
Nicht typisch sind hingegen Langzeitverläufe mit sekundären Hinschäden wie z.B. Sepsis mit Langzeitbeatmung oder Schockgeschehen nach Operation/Blutung/Herzinfarkt.
Was ich damit sagen will: Die Frage einer Organspende stellt sich
nicht bei den Patienten, die wir möglichweise schon tage-/wochenlang auf der Intensivstation behandeln.
Bei den meisten Patienten entwickelt sich die Diskussion
akut in den ersten 5 Tagen nach der Krankenhausaufnahme. Und da man nicht von der ersten Sekunde weiss, wohin sich die Prognose entwickelt, wird
natürlich erstmal Maximaltherapie betrieben.
Es ist
extrem selten, das ein Patient schon primär hirntot in die Klinik kommt.
Weil auch nur wenige Patienten eine persönliche Entscheidung zur Organspende getroffen haben, muss im Verlauf parallel mit den Angehörigen gesprochen werden.
Doch
wann spricht man dieses sensible Thema an?
Wenn der Hirntod irreversibel eingetreten ist?
Wenn man den Hirntod (aus medizinischer Erfahrung heraus) erwartet?
Wieviel Zeit gibt man den Angehörigen?
Das benötigt Zeit und diesen Zeitraum sollte man allen Beteiligten auch zugestehen. So gesehen lautet die Antwort: Ja, es wird regelmäßig "organprotektive Therapie" als "Mittel zum Zweck" (wenn man es so nennen will) betrieben.
Nicht unerwähnt bleiben sollte auch der Aspekt der Trauerarbeit/Trauerbewältigung nach einem solchen Ereignis. Gerade bei jungen Menschen haben die Angehörigen hinterher oft das Gefühl, das mit der Organspende der ganze Vorfall
wenigstens noch etwas Gutes hatte.
Insgesamt ist es aber ein sehr komplexes Thema, bei dem man jedem Beteiligten seine ganz eigene Sicht der Dinge zugestehen muss. Eine "richtig" oder "falsch" gibt es nicht. Es ist allerdings hilfreich, wenn Menschen ihre Wünsche für so einen Fall möglichst klar und ausführlich formulieren.
Dr. A. Flaccus